Ernst-Ludwig Kirchner, Liegende

Staatliche Kunstsammlung Dresden

Das skulpturale Œuvre des Malers Kirchner ist nur teilweise erhalten, einst waren es über hundert Stücke. Unter dem Erhaltenen ist diese, gleichwohl genialisch unbekümmert entworfen und nicht restlos fertiggewordene Figurine einmalig. Erst 1994 im Kunsthandel aufgetaucht, war sie zuvor nur durch ein Foto Kirchners bekannt.

Der Frauenakt liegt auf der linken Körperseite auf einer amorphen keilförmigen Kissenunterlage, das Kinn angezogen, das Gesicht bis in die Vertikalachse zurückgewendet und in dieser Achse halb erhoben. Die skulpturalen Qualitäten konzentrieren und bestätigen sich im Gesicht. Bestimmend als Leitmotiv ist das von schweren Lidern überschattete Augenpaar unter der Arkade der Brauen, schwarz akzentuiert wie der gespitzte Mund. Kirchner nannte die abstrahierten Bildformen seiner visuellen Erfahrungen „Hieroglyphe". Vermutlich handelt es sich bei der „Liegenden" um ein Abbild seiner Frau Erna.

Die wie einer Giebelfigur eingeschriebene Bogensilhouette der Skulptur - in dieser Ansicht hatte Kirchner das Werk fotografisch dokumentiert - und die Intensität des dem Porträt der Frau des Meisters genäherten Antlitzes heben sich unter Kirchners Holzfiguren weit heraus. Sie ist geprägt von dem stark plastisch-abstrakten Stil seiner Übergangsphase vom frühen zum hohen Expressionismus seit 1911. Dieser Stil dokumentiert sich sonst in jener Reinheit allein in der Malerei und Grafik Kirchners.

Heiner Protzmann

Abbildung: Ernst-Ludwig Kirchner (1880–1938): Liegende. 1911/12 Kastanienholz, lasiert, 24,5 x 68 x 17 cm Albertinum/ Skulpturensammlung nach 1800, Inv. ZV 4212 Aus dem Nachlass Kirchners; seit 1954 in Privatbesitz; 1994 bei Christie’s, London versteigert, erworben aus Mitteln der Kulturstiftung der Länder, des Bundesinnenministeriums, des Freistaates Sachsen, der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden sowie mit Unterstützung des Ernst von Siemens-Kunstfonds, Aufnahme: Hans-Peter Klut/ Elke Estel