Ein Blick auf Tübingen von Erich Heckel
Stadtmuseum Tübingen
Im Jahr 1959 malt Erich Heckel die Ansicht Tübingens und wählt dafür den Blick auf die Stadt von Süden mit der Häuserfront am Neckar und dem Hölderlinturm, der Kulisse, die sich dann verklärend im Fluss widerspiegelt. Weitere zentrale Bauwerke der direkten Umgebung wie Schloss und Stiftskirche sind dagegen nicht zu sehen. Zentrum des Bildes ist der Hölderlinturm, in dem der Theologe und Schriftsteller seine letzten Lebensjahre verbrachte. Monoton scheinen die Häuser um das Zentrum des Turmes gruppiert, der durch die Spiegelung im Wasser eine Dopplung und damit eine Monumentalisierung erfährt.
Schon 1920 hielt Erich Heckel erstmals eine Ansicht von Tübingen in einem Gemälde und in einer Lithografie fest, die im Ausschnitt und Aufbau beinahe identisch sind. Während dem frühen Gemälde eine großzügige Gestaltung und Lebendigkeit, eine harmonische, in rhythmisch bewegten Linien ausgeführte Komposition und eine perspektivisch verzerrte Wiedergabe eigen ist, scheint die spätere Tübingen-Ansicht durch die Staffelung der flächigen Häuserfassaden und Dächer gebaut, nahezu statisch.
Nun können aber alle Äußerungen Heckels zu Tübingen nicht allein als Wiedergaben der Stadtsilhouette, dem allgemeinen Interesse an Stadt- und Wasserlandschaften gedeutet werden. Erich Heckel kehrte 1918 als Kriegsveteran wieder nach Berlin zurück. Die kommenden Jahre waren geprägt von wirtschaftlicher und sozialer Not, politisch vom Übergang des Kaiserreiches zur Weimarer Republik, was eine grundsätzliche Umorientierung und eine neue Haltung der Künstler zur Wirklichkeit mit sich brachte. Auch für Heckel begann eine neue Epoche. Dazu kamen ganz neue Bezüge und Freundschaften, die sich nach der Rückkehr aus dem Krieg entwickelt hatten. Prägenden Gedankenaustausch pflegte Heckel mit Ernst Morwitz, der seit ca. 1910 zum engen Kreis um Stefan George gehörte, welcher sich intensiv auch der Hölderlin-Rezeption angenommen hat. Der philosophische und literarische Austausch innerhalb dieses Kreises bedeutete Heckel außerordentlich viel, er sah dort seine geistigen Ideale und Ziele verwirklicht. So ist es nicht verwunderlich, dass sich diese Diskussionen und die Kunstgespräche in den künstlerischen Arbeiten Heckels niederschlugen. Vor allem in Porträts oder in großen Bildzusammenhängen sind die Gesichtszüge von Morwitz oder von Stefan George eindeutig zu erkennen.
Auch wenn Heckel vor allem in den 1920er Jahren viele Veduten malte und dazu hin zu einer Tübinger Familie freundschaftlichen Kontakt pflegte, so sind die Bilder mit dem zentral platzierten Hölderlinturm nicht nur aus dem topografischen Interesse entstanden, sondern stellen eindeutig visuelle Äußerungen von Heckels Gedanken- und Ideenwelt dar.
Das Stadtmuseum Tübingen sammelt seit Anbeginn Stadtansichten. Durch Ankäufe sollen nach wie vor wichtige Lücken geschlossen werden. Die Leihgabe stellt eine künstlerische Äußerung des prominentesten Malers des 20. Jahrhunderts dar, der sich mit der Vedute Tübingens befasste.
Dr. Evamarie Blattner
Abbildung: Erich Heckel, Am Neckar (Tübingen), 1959, Tempera auf Leinwand, 80,5 x 70,5 cm; © Stadtmuseum Tübingen