Ein Meisterwerk in Berlin: Camille Claudels "L’Implorante" (petite modèle, um 1905) in der Alten Nationalgalerie

Alte Nationalgalerie Berlin

Die französische Bildhauerin Camille Claudel (1864-1943) nimmt unter den zahlreich dokumentierten Schüler*innen und Mitarbeiter*innen Auguste Rodins (1840-1917) heute wohl den bekanntesten Platz ein. Neben ihrer tragischen Liaison mit Rodin, die bislang primär für ihre Bekanntheit sorgte, hat nicht zuletzt die jüngste Künstlerinnenforschung den Blick auf ihr plastisches Werk geschärft.
In der kaum drei Jahrzehnte währenden Schaffenszeit der Bildhauerin, nimmt die Figur der Implorante (Flehende) eine herausgehobene Stellung ein. Als herausgelöster Teil der 1899 erstmals im Salon der Société Nationale des Beaux-Arts ausgestellten Komposition L’Âge mûr (Das reife Alter) wurde die Figur in verschiedenen Größen vertrieben und in dieser Form erstmals 1905 in der Pariser Galerie von Eugène Blot präsentiert. „Als ich von meinem Freund G. Geffroy zu der großen Künstlerin Camille Claudel geführt wurde, die, wie Mirbeau sagte, für Rodin das ist, was Berthe Morisot für Manet ist, kaufte ich ihr zunächst die Figur Imploration in ihrer Originalgröße […] ab. Diese kniende Figur ist Teil einer Gruppe von drei Figuren, die sie […] La Jeunesse de l'Âge mûr nennt [...]. In der Originalgröße, die als Nr. 1 bezeichnet wurde, beschränkte ich die Auflage auf 10 Abzüge. Ich fertigte sofort eine Verkleinerung Nr. 2 an, die ich auf 100 Abzüge begrenzte.“1 Der große Erfolg der kleinen Knienden, von der Blot bis 1937 ganze 59 Exemplare gießen konnte, ist einerseits in der kaufmännisch klugen Entscheidung begründet, eine gut verkäufliche Statuetten-Größe anzubieten, anderseits in der inhaltlichen Offenheit der Figur, deren jugendliche Darstellung und emotionaler Pathos zu positiven öffentlichen Besprechungen anregte: „Die Imploration, eine schmerzhafte, kniende Kreatur, die mit ihrem ganzen Blick, ihren gespannten Lippen, der Darbietung ihres Oberkörpers und ihren zitternden Händen um Hilfe bittet, was will sie? Das Geheimnis ihrer Geste legt der Seele verschiedene Interpretationen nahe. Vielleicht ist sie einfach das Elend, das am Wegesrand weint.“2
Mit Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung gelang der Ankauf des frühesten bekannten Blot-Gusses der Implorante, bezeichnet mit der Gussnummer 3. Mit dem Ankauf kann die Alte Nationalgalerie eine entscheidende Lücke im Bereich der impressionistischen Bildhauerei schließen und den Sammlungsbestand von Künstlerinnen durch eine gewichtige Position ergänzen.

Yvette Deseyve

1 französisches Original in: Reine-Marie Paris, Camille Claudel. Re-trouvée. Catalogue raisonné, Paris 2000, S. 340
2 französisches Original in: Louis Vauxcelles, Camille Claudel, in: Exposition d'OEUvres de Camille Claudel et de Bernard Hoetger Ausst. Kat. Paris 1905, o. S.

 

1 Camille Claudel, L’Implorante, Entwurf 1898 (Guss um 1905), Bronze, Berlin, Alte Nationalgalerie
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© Foto courtesy of Bowman Sculpture Gallery, London, UK