Ein "wilder Wazzerman" auf Beutezug: Restaurierung eines Meerwunder-Teppichs, um 1515
Germanisches Nationalmuseum Nürnberg
Schauplatz des Geschehens ist eine Kulturlandschaft mit Felsenquelle, Orangenbäumen, Blumen und stattlichen Gebäuden im Hintergrund. Wilde Leute bevölkern das von einem Flechtzaun und einem Wasserlauf geschützte Refugium, das als Ort des Wohllebens jäh von einem Ungeheuer in Gestalt eines gerüsteten Ritters mit halbem Fischleib gestört wird. Das Mischwesen, welches das merewonder (Meerwunder) oder den wilden wazzerman mittelalterlicher Texte verbildlicht, umklammert mit seinem gepanzerten Arm eine Wilde Frau, um sie zu entführen. Mit erhobenem Schwert verteidigt der Eindringling seine Beute gegen die Wilden Männer, während die Frauen gestenreich den Verlust der Gefährtin beklagen. Das in der antiken und nördlichen Überlieferung bekannte Motiv inspirierte um 1498 auch Albrecht Dürer zu einem seiner berühmten Kupferstiche. Die Tapisserie steht in der Tradition franko-flämischer Garten- und Jagdteppiche und fußt wie jene auf der in der burgundischen Hofkultur ausgebildeten seigneurialen Ikonographie arkadischer Kultur- und Liebeslandschaften. Für ihre Auftraggeber waren die weiten Wälder, reichen Jagdgründe, fruchtbaren Vegetationen und herrschaftlichen Architekturen vielfältig einsetzbare Chiffren der eigenen Lebenswelt. Die Stelle der adeligen Gesellschaft, die sich in jenen Landschaften aufhält, nehmen auf Bildteppichen häufig die aus der Dichtkunst und von höfischen Spielen vertrauten Wilden Leute ein. In den bis auf Gesicht, Brüste, Hände und Füße behaarten Wesen verbindet sich die Vorstellung antiker Satyrn und nördlicher Walddämonen. Sie versetzen das menschliche Leben gleichsam in einen paradiesisch-unverbildeten Zustand, der dem Betrachter Augenlust bot und zugleich zur Selbstreflexion anregte. Der 1868 vom Germanischen Nationalmuseum erworbene Teppich war eines der zentralen Exponate der Sonderausstellung Die Frucht der Verheißung. Zitrusfrüchte in Kunst und Kultur, die vom 18.5. bis 11.9.2011 im Germanischen Nationalmuseum stattfand. Um die wegen ihres Erhaltungszustands seit langem deponierte Tapisserie zeigen zu können, bedurfte es einer umfangreichen Restaurierung, die jetzt endlich durchgeführt werden konnte.
Jutta Zander-Seidel
Abbildungen:
1 - 2 Vor und Nach der Restaurierung: Raub einer Wilden Frau durch ein Meeresungeheuer (Meerwunder), Südliche Niederlande, um 1515, Bildteppich, Wirkerei; Kette: Wolle, ungefärbt; Schuss: Wolle, Seide, mehrere Farben, Leinen, weiß; Kettdichte: 3,7 - 4 Fäden/cm, H. 355 cm; B. 536 cm © Germanisches Nationalmuseum Nürnberg