Eine Winterlandschaft von van Gogh zum Herbstanfang
Staatliche Graphische Sammlung München
„Ich bin überzeugt, daß Millet, Daubigny und Corot, wenn man von ihnen verlangen würde, sie möchten eine Schneelandschaft ohne Weiß malen, es tun würden, und daß der Schnee in ihren Bildern weiß erscheinen würde.“ (Erpel, Sämtliche Briefe, Bd. 3, Nr. 405; van Crimpen/Berends-Albert, De brieven van Vincent van Gogh, Bd. 3, Nr. 502)
Als Vincent van Gogh in einem an seinen Bruder Theo in Paris gerichteten Brief von Anfang Mai 1885 seiner Bewunderung über die malerische Virtuosität führender Köpfe der Schule von Barbizon Ausdruck verlieh, fristete er selbst noch sein Dasein in der niederländischen Provinz, hielt aber durch Theo, der kunsthändlerisch tätig war, Kontakt zur Pariser Kunstszene. Dass seine Malerei schon wenige Jahre später alles in den Schatten stellen sollte, konnte zu diesem Zeitpunkt niemand ahnen.
In Vincent van Goghs kurzer Reflexion über eine Schneelandschaft ohne Weiß innerhalb eines längeren Briefs an Theo blitzt eine faszinierend wechselvolle Zeit in der bildenden Kunst der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf, in der festgeschriebene Traditionen als obsolet erachtet und akademische Dogmen infrage gestellt werden. Mit diesen Vorzeichen versehen gibt sich Vincent van Goghs frühe Zeichnung als atemberaubend modern zu erkennen. Das von ihm beschriebene Vermögen der neuen Malerei, einen Eindruck von Schnee ohne Weiß erschaffen zu können, transferiert er selbst in seiner kleinformatigen Tuschfederzeichnung in eine für die Zeit ungewöhnliche graphische Technik: Er kratzt mit einem Stichel einzelne Passagen der tuschegefärbten Komposition frei, so dass das Motiv luftig schneebedeckt erscheint, ohne dass mit Deckweiß gehöht worden wäre. Auch die Komposition gestaltet sich überraschend modern. Folgt man der Argumentation der Experten des Van Gogh Museums in Amsterdam, so ist der Begräbniszug eine selten freie Bilderfindung des Künstlers, die er in eine nach der Natur gezeichnete Landschaft hineinsetzt.
Stilistisch kündigt sich in dem Blatt ein stimmungsvoll aufgeladener Symbolismus avant la lettre an. Ohne Frage ist van Goghs frühe Zeichnung aus der Nuenener Zeit für sich schon ein Ausnahmeblatt. Im Sammlungskontext der Staatlichen Graphischen Sammlung München aber stellt es sich mit Blick auf die bereits vorhandenen drei Meisterblätter in Rohrfeder des späten van Gogh der 1888/89er Jahre als ein Desiderat erster Güte dar.
Dr. Michael Hering
Abbildung: