Emil Nolde, Lichte See, 1915
Staatliche Galerie Moritzburg Halle
Emil Noldes Gemälde „Lichte See“ zeigt das Meer in seiner unendlichen Weite und elementaren Naturgewalt. Der Horizont ist kaum wahrnehmbar, die bewegte See mit aufgewühlten Schaumkronen geht fast fließend in einen tiefblauen Himmel über, der von Wolken teilweise verhangen ist. Ein kleines Boot mit dunkelgrünem Segel kämpft in leichtem Seegang um das Fortkommen. Die lichten, zerrissenen Wolken korrespondieren mit der hellen Gischt, ihre Formen binden Himmel und See zusammen. Die Farbigkeit ist ganz auf Blau und Grauweiß reduziert und verleiht dem Bild einen hohen Abstraktionsgrad; allein das Segelboot führt Größenverhältnisse, Deutung und Erzählung ein. In diesem kleinen Motiv hebt sich die Einsamkeit des Meeres in der Verlorenheit des Menschen auf.
Das Meer als unendliches, bewegtes und sich wandelndes Element hat Nolde sein Leben lang fasziniert. „Nolde kennt das Meer, wie es vor ihm noch kein Künstler gekannt hat. Er sieht es nicht vom Strande oder vom Schiffe aus, er sieht es so, wie es in sich selbst lebt, losgelöst aus jedem Bezug auf den Menschen, als das ewig regsame, ewig wechselvolle, ganz in sich selbst sich auslebende, in sich selbst sich erschöpfende göttliche Urwesen, das bis heute noch die ungebändigte Freiheit des ersten Schöpfungstages sich bewahrt hat.” (zit. M. Sauerlandt, 1921). Gegenüber früheren Meerbildern Noldes ist die „Lichte See“ wenig aufgeregt und nicht wirklich bedrohlich.
Das Gemälde gehört zu einer Reihe von Meerbildern, die Nolde unmittelbar nach seiner Rückkehr von der Südseereise schuf und in denen er die Eindrücke der weiten Fahrten über das Meer verarbeitete. Es befand sich einst in der Sammlung Rosy und Ludwig Fischer und gelangte 1924 im Zuge des Ankaufs eines Teils dieser Sammlung in das Städtische Museum von Halle. Mit sieben weiteren Werken trug es zum repräsentativen Querschnitt durch Noldes Schaffen in der Moritzburg bei. Der gesamte expressionistische Bestand des Museums wurde 1937 als „entartet“ beschlagnahmt und größtenteils verkauft. Zur Sammlung Fischer gehörte auch das Meerbild „Blaue See“ aus dem Jahr 1918, in dem die Abstraktion noch weiter getrieben ist: Meer und Himmel sind gänzlich monochrom und werden nur durch eine grüne Horizontlinie mit der schemenhaften Andeutung eines grünen Segels voneinander getrennt (heute: Fischer Collection, Virginia Museum of Fine Arts, Richmond).
Katja Schneider-Stief
Abbildung: