Erasmus Grasser Imago pietatis
Diözesanmuseum Freising
Bis in die Haarspitzen sind die beiden jugendlichen Engel emotional ergriffen, denn sie halten den zerbrechlichen Körper des zusammengesunkenen Schmerzensmannes in ihren Armen. Vom Leid und Tod Christi betroffen, verweisen sie mit auffälligen Gesten auf seine Wundmale und fordern dadurch zu Betrachtung und Einfühlung auf. Sie selbst dienen mit ihrem Weinen und Klagen als Vorbild für eine Frömmigkeitshaltung, die zur imitatio und compassio des Leidens Christi aufruft. Die Imago pietatis gehört zu den erschütterndsten Andachtsbildern des späten Mittelalters, und kein geringerer als Erasmus Grasser (Burglengenfeld um 1450-1518 München) schuf das anrührende Werk um 1490 in München. Mit großer Meisterschaft vermag Grasser die Intensität der tief empfundenen Trauer künstlerisch aus dem Block des Holzes herauszuholen. Den bewegten Locken der Haarmähnen entspricht die nervöse Faltengebung von Spottmantel Christi und Alben der Engel, so dass das Auge des Betrachters rastlos über die kleinteilig strukturierte Oberfläche gleitet und erst in den ruhigen Flächen der nach oben weisenden Engelsflügel Ruhe findet – eine geniale Umsetzung mit gleichzeitigem Verweis auf die mit Leid und Tod verbundene Auferstehung und Erlösung Christi.
Erasmus Grassers neuartige Bildkonzepte waren ausschlaggebend für die Blitzkarriere des zunächst als „unfridlichen, verwornen und arcklistigen Knecht“ in München verschrienen Bildhauers. Bereits mit seinem ersten großen Auftrag der Ausstattung des Münchner Tanzhauses schuf er die sensationelle Serie der Moriskentänzer, deren Vitalität und raumgreifende Expression aus den bisherigen Bildschemen ausbrach und ein völlig neuartiges Erleben von Skulptur ermöglichte. Anspruchsvolle Aufträge wie das Chorgestühl der Frauenkirche mit etwa 170 figürlichen Teilen oder der großformatige Petrusaltar in der Pfarrkirche St. Peter folgten. Mit dieser und weiteren Arbeiten legte er den Grundstein für seinen auch finanziellen und politischen Erfolg und seine bis heute geltende Bedeutung als einer der herausragenden Künstler in München und innovativsten Bildhauer der Spätgotik überhaupt.
Eine wohl einmalige Chance bot sich dem Diözesanmuseum Freising bei der Erwerbung der Skulpturengruppe, die mit Hilfe der kurzfristigen und großzügigen Unterstützung der Ernst von Siemens Kunststiftung sowie Sondermitteln der Erzdiözese München und Freising Anfang 2016 im New Yorker Kunsthandel (Sotheby’s) ersteigert werden konnte. Das Museum verfolgt mit der Erwerbung gleich mehrere Ziele. Zum einen gehört die süddeutsche Spätgotik, speziell der bayerisch-tiroler Kulturraum, zu den Sammlungsschwerpunkten. Gerade im Bereich der Spitzenwerke spätgotischer Bildhauerkunst machten sich jedoch Lücken im Sammlungsbestand bemerkbar, weshalb die gerade laufende Generalsanierung für eine Revision und der damit verbundenen Neukonzeption der Dauerausstellung genutzt wird. Diese kann nun mit einem sowohl künstlerisch als auch frömmigkeitsgeschichtlich herausragenden Werk von Erasmus Grasser nicht nur ergänzt, sondern vor allem konzeptionell vertieft werden: Künstlerisch, weil sich im Hinblick auf die Künstlerpersönlichkeit Grassers in diesem subtilen Einzelwerk sowohl stilistisch als auch seine Werkstattpraxis betreffend neue Forschungsmöglichkeiten eröffnen. Frömmigkeitsgeschichtlich, weil das für die Epoche so charakteristische Andachtsbild eine Kontextualisierung der Fragen nach der Aufstellung und Präsentation sowie den Andachtsformen und dem liturgischen Kontext ermöglicht. Das Motiv der Engelspietà entstand in Burgund im 14. Jahrhundert und ist eine überhistorische Zusammenschau von Kreuzestod und dem Fortwirken Christi in der Eucharistie in einer prägnanten Bildformulierung. In wie weit der Bildtyp mit dem spätmittelalterlichen Brauch der Augen-Kommunion in Verbindung steht, ist noch weitgehend ungeklärt. Eine auch lokale Verbindung zu Freising hielt Grasser seit 1493, als er mit mehreren Arbeiten im Freisinger Dom tätig wurde.
Erasmus Grasser ist nicht nur Meister expressiver Drastik und raumgreifender Bewegung, sondern auch feinfühlig-behutsamer Verhaltenheit, wenn es die Aufgabe erforderte. Das Diözesanmuseum Freising schätzt sich glücklich, dieses ausdrucksstarke Bildwerk in seinen Bestand zu integrieren und es sobald wie möglich der Öffentlichkeit zugänglich zu machen.
Dr. Carmen Roll