Ernst Ludwig Kirchner, Potsdamer Platz, 1914
Staatliche Museen zu Berlin, Preußischer Kulturbesitz, Neue Nationalgalerie
Kirchner vollendete im Herbst 1914 das Gemälde „Potsdamer Platz“: in der Mitte des Hintergrundes der Potsdamer Bahnhof, auf eine Arkadenloggia reduziert, die Uhr zeigt Mitternacht; links das 1913 von Kempinski eröffnete „Cafe Picadilly“, nach Kriegsausbruch in „Haus Vaterland“ umbenannt; rechts die Linkstraße. Vor dieser Architekturkulisse sind zwei Kokotten die Hauptdarstellerinnen auf der ovalen Bühne einer Verkehrsinsel. Die eine im Trauerkostüm hat sich mit dem Witwenschleier getarnt, fahlgrünes Antlitz, rot brennendes Haar. Die Jüngere in Preußisch-Blau wächst, immer schlanker werdend, nach oben. Die Figuren im pantomimischen Habitus verkörpern in ihrer Isolation Jugendlichkeit und Altern, Sich-Behaupten und Abwendung. Hinter den Frauen nähern sich mit gespreizten Beinen die Freier in Schwarz.
Der Nachtgänger Kirchner hat dieses Sich-Fremd-Bleiben, seine Faszination von der Verruchtheit des Eros in der Metropole in einer Formensprache erfasst, die auf Kontraste baut: Figur und Stadtraum, Groß und Klein, Oval und Keilform. Gotisch anmutende Zuspitzung durchdringt die organische Rundform der „Drehscheibe“, die Figuren und die Architekturkulisse sind in äußerster Spannung aufeinander bezogen. Auch im Koloristischen ein Feld der Kontraste: giftiges Grün gegen Grau, Preußisch-Blau gegen Rosa-Rot.
Mit seinem „Potsdamer Platz“ gibt Kirchner ein abgründiges Panorama an Stelle des Ausschnitts seiner Straßenszenen, und er zieht mit diesem grandiosen Bild nach Kriegsausbruch die Bilanz seiner geistig-existentiellen Berlin-Erfahrung: die Metropole als Schauplatz der Käuflichkeit des Eros, der unauflösbaren Verstrickung der Geschlechter. Die abschüssige Bahn des Platzes signalisiert den künftigen Untergang.
Kirchners „Potsdamer Platz“ gilt als Ikone des deutschen Großstadt-Expressionismus. Das Bild erinnert an die legendäre Drehscheibe der Weltstadt Berlin im Moment der architektonischen Wiedergeburt im Berlin des beginnenden 21. Jahrhunderts. Es gibt dafür keinen sinnfälligeren Ort als Mies van der Rohes Neue Nationalgalerie am neu entstehenden Potsdamer Platz.
Roland März
Abbildung: