Gabriele Münter: Erma Bossi und Kandinsky am Tisch, 1909/10
Schlossmuseum Murnau
Gabriele Münter erfasst hier Wassily Kandinsky im Gespräch mit der Künstlerin Erma Bossi. Diese „sprechende“ Szene in der Essecke des Münter-Hauses in Murnau stellt für die Malerin eine neue Bildform des Porträt-Interieurs dar. Nach Orts- und Landschaftsansichten von 1908 und 1909 wurde nun auch das häusliche Umfeld eine Inspirationsquelle. Seit kurzem wohnte Münter mit Kandinsky in Murnau, malte hier mit Freunden und diskutierte mit ihnen über gewandelte Seherfahrungen expressiver Malerei. Die dozierende Haltung Kandinskys und das kritisch aufmerksame Zuhören Bossis sind Zeugnis für jene Zeit.
Münters Gemälde dokumentiert diese neuen künstlerischen Prinzipien: Mit einer formal abstrahierten Gestaltung, auf die wesentlichen Formen konzentriert und in leuchtenden, kontrastreichen Farben ausgeführt, bannt die Malerin die Bildmotive in die Fläche. Damit erreichte sie, was sie 1908 über diese entscheidende Zeit in Murnau formulierte: „Ich habe da nach einer kurzen Zeit der Qual einen großen Sprung gemacht - vom Naturmalen – mehr oder weniger impressionistisch – zum Fühlen eines Inhalts – zum Abstrahieren – zum Geben eines Extraktes“. Dem scheinbar spontan gemalten Interieur waren jedoch mehrere Vorarbeiten für den Bildentwurf vorausgegangen. Kandinsky und Franc Marc waren voller Begeisterung gerade für diese Bildkomposition Münters. Um sich von dem 1909/10 entstandenen Gemälde nicht trennen zu müssen, schuf Münter 1912 eine weitere Fassung (heute: Städtische Galerie im Lenbachhaus, München).
Das ländliche Ambiente in Murnau erfüllte die Vorstellungen der Künstler von Unverfälschtheit und ursprünglichem Empfinden, das sie für ihr Schaffen als maßgebend ansahen. Wie das Gemälde verdeutlicht, befolgten sie die für ihre Malerei gewählten Prinzipien auch in ihrer Lebensweise: Kandinsky trägt ländliche Kleidung. An der Wandverkleidung des schlicht möblierten Raums hängen religiöse Figürchen und Hinterglasbilder. Die reduzierte Bildsprache und die leuchtende Farbigkeit dieser Hinterglasbilder kamen Kandinskys und Münters künstlerischen Zielen entgegen und regten sie an, selbst in dieser Technik zu malen. So ist das Gemälde ein Schlüsselwerk Münters in einer entscheidenden Phase der mit Murnau verbundenen expressiven Malerei.
Brigitte Salmen
Abbildung: