Gerhard Richter, Silikat (885-4) 2003
Gesellschaft der Freunde der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen
Gerhard Richter zählt zu den international bedeutendsten Künstlern der Gegenwart. Sein vielfältiges Œuvre umfasst gegenständliche und abstrakte Werke bis hin zu Skulpturen und Rauminstallationen. Das hier vorzustellende Gemälde entstand 2003 und trägt den Titel Silikat. Es ist das letzte einer Serie von vier Bildern, die jeweils 290 cm x 290 cm messen. Schon das monumentale Format lässt den besonderen Stellenwert erkennen, den der Künstler selbst dieser Bildfolge zuschreibt, die in seinem Schaffen der letzten 20 Jahre ohne Parallele ist. Ganz auf Grautöne gestimmt, sind bei allen vier Arbeiten, die eine Einheit bilden, durchgängig zwei Momente auffällig: eine repetitive Struktur und eine verschwommene Darstellungsweise. Die so eklatante Unschärfe, die beim Betrachter Schwindelgefühle auslösen kann, ist für Richters Schaffen seit den 1960er Jahren charakteristisch und mag als Paradigma seines fundamentalen Erkenntniszweifels verstanden werden.
Richters Œuvre hebt auf den im 17. Jahrhundert erfolgten epistemologischen Bruch des Sichtbarkeitspostulats ab. Bekanntlich führte die Entwicklung von Fernrohr und Mikroskop damals zur Einsicht, dass die sichtbare Welt nur ein sehr kleiner Ausschnitt aus der physikalischen Realität ist, dessen gesamte Spannbreite das menschliche Auge wegen seiner begrenzten Fähigkeiten nicht erfassen kann. Im Größten wie im Kleinsten begann sich der Mensch mit Hilfe entsprechender Hilfsmittel in Raumdimensionen vorzutasten, die nur als „reale Transzendenz“ zu verstehen sind. Und das wiederum hatte Rückwirkungen auf die unmittelbare Anschauung, der wir normalerweise trauen und auch trauen müssen, um uns in unserer Lebenswelt orientieren zu können, während Richter auch hier die so augenscheinliche Evidenz hinterfragt. Aus der Ferne betrachtet, scheinen alle seine Sujets greifbar und in hohem Maße konkret, ganz gleich ob es sich, wie in diesem Fall, um molekulare Strukturen handelt oder um Landschaften, Porträts oder Stillleben. Nähert man sich den Bildern, löst sich indessen alles buchstäblich in graue oder farbige, grundlose Nebel auf, zumal noch nicht einmal eine Pinselspur auszumachen ist.
Prof. Dr. Armin Zweite
Abbildung: