Gerrit Rietveld, Kommode, 1938-39
Bröhan-Museum, Berlin
Während im Rest von Europa der Erste Weltkrieg tobte, gründete sich 1917 im neutralen Holland eine Künstlergruppe, die die Kunst des 20. Jahrhunderts nachhaltig prägte. Maler, Architekten und Designer wie Theo van Doesburg, Piet Mondrian, J. J. P. Oud und Vilmos Husar schlossen sich zur Gruppe De Stijl zusammen und gaben die gleichnamige Zeitschrift heraus. 1922 stieß auch der Architekt Gerrit Thomas Rietveld zu De Stijl. Ausgehend von der Malerei sprach sich die Gruppe für eine neue überindividuelle und universelle Kunst im Gegensatz zur subjektiven und naturnachahmenden Kunst aus. Erstmals wagte man eine völlig ungegenständliche Malerei, die auf einer geometrischen Formensprache basierte und überwiegend mit den Primärfarben Rot, Gelb, Blau arbeitete. Nach der Abstraktion, die Kandinsky schon vor dem ersten Weltkrieg propagiert hatte, war nun der nächste Entwicklungsschritt in der Kunst vollzogen. Allerdings sollte sich diese neue Gestaltung nicht auf die bildende Kunst beschränken, sondern alle Bereiche des Lebens umfassen - Ausdruck eines „neuen Zeitbewußtseins“ werden.
Deshalb waren Architekten und angewandte Gestalter in dieser Gruppe von Anfang an gleichberechtigte Mitglieder. Gerrit Thomas Rietveld ( 1888 in Utrecht geboren und 1964 dort gestorben) war sicherlich der bedeutendste Designer bei De Stijl. Er setzte die von Van Doesburg und Mondrian im Kunstbereich formulierte Ästhetik kongenial in Möbeln und in der Architektur um. Seine bekanntesten Entwürfe sind das Schröder-Haus in Utrecht von 1924 und der Roodblauwe Stoel, dessen erste noch farblose Fassung Rietveld schon 1918 entwarf. Rietveld wollte dabei „die Einzelteile unverstümmelt untereinander verbinden, so dass möglichst das eine nicht dominierend von dem anderen bedeckt oder abhängig gemacht wird; es soll das Ganze vor allem frei und hell im Raum stehen und die Form über das Material triumphieren“. Ein Möbel als Ausdruck des demokratischen Prinzips und Gestaltung als Beitrag zur Verbesserung der Gesellschaft sind ein Grundkonzept der De Stijl Bewegung.
Auch die Drahtglaskommode setzt mit ihrem bestimmenden Wesensmerkmal der Transparenz hier an. Bis auf den schlichten Holzsockel scheint das Möbel nur aus Glas zu bestehen. Geschickt versteckt Rietveld die konstruktiven Elemente unsichtbar im Inneren der Kommode. Wie bei einem Kartenhaus scheint jedes Element das andere zu stützen, ohne dass eines dabei zu dominant würde. Waren die frühen Entwürfe wie der Roodblauwe Stoel noch sehr der handwerklichen Tradition verpflichtet - Rietveld selbst begann seine Karriere mit einer Schreinerlehre - so setzt er nun mit dem Drahtglas konsequent auf ein industriell gefertigtes Material. Das Möbel ist radikal modern und weist in seiner Ästhetik schon auf Architektur und Design der Nachkriegsmoderne in den 50er und 60er Jahr voraus.
Dr. Tobias Hoffmann
Direktor Bröhan-Museum
Abbildung: Gerrit Rietvield (1888-1964): Kommode, 1939-39, Drahtglas, Metall, Holz, Sockel aus Massivholz, weiß lackiert, Eisenprofile, vernickelte Metallschienen, 78,5 cm x 100 cm x 50,5 cm, Bröhan-Museum, Berlin, Inv.-Nr.: DL 15-003.