Höfisches Schreibkabinett
Kunstsammlungen und Museen Augsburg, Maximilianmuseum
Im 16. Jahrhundert war die Reichsstadt Augsburg einer der Zentralorte des Alten Reiches. Regelmäßig stand sie im Blickpunkt der Zeit, wie die Reichstage von 1518 (Wahl Kaiser Karls V.), 1530 (Confessio Augustana) und 1555 (Augsburger Religionsfrieden) belegen. Davon profitierte das Kunsthandwerk. Augsburg wurde eine der großen Kunstmetropolen Europas, das von hier Uhren, Waffen, Goldschmiedearbeiten und Möbel bezog. Wie geschickt man Trends von auswärts aufgriff, zeigt dieses Kästchen, dessen Prototyp um 1500 als „escritorio“ genanntes Schreibkabinett in Spanien entwickelt wurde. Es ist ein Intarsienmöbel, bei dem dünne Furnierhölzer fein ausgesägt auf ein Trägerholz geleimt sind. Typisch für Augsburg ist die extrem kleinteilige Technik. Alle Details sind Einlegearbeiten.
Die Außenseiten zeigen die alttestamentliche Geschichte von Judith und Holofernes, der das jüdische Bethulia belagerte. Die gottesfürchtige Judith gewann seine Gunst. Nach einem Fest blieb sie in seinem Zelt und enthauptete ihn. Die Vorderseite zeigt Judith und ihre Magd mit Holofernes‘ Kopf. Vorlage war ein Holzschnitt aus Virgil Solis‘„Biblischen Figuren des Alten und Newen Testaments“ von 1560. Die bei geöffneter Frontklappe sichtbaren Szenen – u.a. die Verkündigung Mariens auf der Innenseite, die vier Evangelisten und Szenen aus der Apostelgeschichte auf den Schubladenfronten – folgen gleichfalls Solis‘ „Biblischen Figuren“. Die letzte Wandlung erfolgt mit Öffnen der Deckplatte. Der Funktion als Geheimfach entspricht der Wechsel zu profanen Bildthemen. Wie ein Warnschild zeigt die Innenseite die antike Sagengestalt Aktäon, der auf der Jagd versehentlich Diana samt Gefährtinnen beim Baden überrascht. Damit er nichts ausplaudert, verwandelt sie ihn in einen Hirsch, worauf seine Hunde ihn zerreißen. Der Kunstschreiner zeigt hier sein ganzes Können: selbst die Wellenlinien des Wassers sind eingelegte Holzteilchen. Die Jagdszenen der Innenseiten sind Allegorien auf Liebe und Sexualität, während das Obstbouquet des Bodens Fruchtbarkeit symbolisiert. Das Kästchen entfaltet eine spezifisch weibliche Ikonografie, die Liebe, Scham, Fruchtbarkeit und die christliche Heilslehre thematisiert. Als Empfängerin des um 1570 entstandenen Möbels kommt wohl nur eine Dame aus fürstlichem Hause in Frage.
Dr. Christoph Emmendörffer
Maximilianmuseum, Kunstsammlungen und Museen Augsburg