Jesuskind mit Weintraube
Bayerische Nationalmuseum München
Auf einem niedrigen Rasenstück schreitet das nackte Jesuskind mit beiden Beinen kräftig aus. Von der großen blauen Traube, die es mit der linken Hand gegen den Leib drückt, hat es eine Beere abgepflückt und scheint sie dem Betrachter entgegenzuhalten. Denkbar reiche Bewegungsmotive verbinden sich mit erstaunlicher Erfassung des kindlichen Körpers durch Charakterisierung des noch unsicheren, aber zielstrebigen Voranstolperns, des runden Bäuchleins, der Speckfalten auf den Schenkeln, dem schelmischen, abwartenden Blick aus dem großen, leicht schief gehaltenen Gesicht. Die überaus fein geschnitzten, stark aufgelockerten, ursprünglich vergoldeten Haare stehen in gesuchtem Kontrast zur Glätte des Kinderkörpers, die durch die ungewöhnlich gut erhaltene Farbfassung betont wird: ein porzellanartiges, fast weißes Inkarnat mit grünlichen Schatten, das bei den Wangen im Gesicht, an Knien und Ellenbogen und am Gesäß zu kräftigem Rosa zusammenläuft. Nicht zuletzt ist es diese strahlende Farbigkeit, die den bestimmenden Eindruck köstlichen Liebreizes der kleinen Skulptur hervorruft.
Das Bildwerk steht in einer Tradition kleiner stehender und nackter, oft zum Anziehen mit kostbaren Kleidern bestimmter Jesuskinder, deren Anfänge im Bereich von Krippenspielen und Christkindleinwiegen in süddeutschen Nonnenklöstern des 14. Jahrhunderts vermutet werden. Aus dem 15. Jahrhundert kennen wir eine Reihe solcher Figuren mit unterschiedlicher Bedeutung. Einige stellen den Salvator mit Weltkugel in der Hand dar, andere weisen mit Traube und dargereichter Beere auf die Geheimnisse von Eucharistie und Passion.
Rainer Kahsnitz
Abbildung: Lindenholz mit originaler Farbfassung; H. 41 cm, © Bayerische Nationalmuseum München