Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, Hektor hält Paris seine Weichlichkeit vor, 1786

Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen Weimar

Tischbein stellte eine Szene aus dem „Sechsten Gesang“ (Vers 312-365) der Ilias dar. Paris verbringt im Palast die Zeit mit seiner schönen Frau Helena. Hektor, der heldenhafte Krieger, sucht nun den troischen Königssohn auf, um ihn zu den Waffen zu rufen, ihn aus der verweichlichenden weiblichen Umgebung herauszulösen. Der Maler hält sich an literarisch vorgegebene Details, doch ist das Gemälde zudem eine phantasievolle Interpretation. Die sechs der Helena in weiblicher Arbeit zugewandten Frauen tauchen nur beiläufig im Text auf, sind jedoch im Bild von besonderer Wirkung. Ein Kontrast besteht zum martialischen Hektor und zum für seine Schönheit berühmten, hier als zartgliedrig geschilderten Paris. Das kultivierte Ambiente wird sich erschreckend verändern: Hektor weist mit seiner Linken auf das schon umkämpfte Troja, das im Hintergrund sichtbar ist.

Goethe berichtet in der „Italienischen Reise“ August 1787: „Durch Davids Horatier hatte sich das Übergewicht auf die Seite der Franzosen hingeneigt. Tischbein wurde dadurch veranlaßt, seinen Hektor der den Paris in Gegenwart der Helena auffordert, lebensgroß anzufangen.” Goethes Hinweis, der Schwur der Horatier von Jacques-Louis David habe Tischbein „veranlaßt“, das Gemälde zu konzipieren, verweist auf einen zentralen Aspekt der künstlerischen Auseinandersetzung zwischen den deutschen und französischen Künstlern in Rom. Hektors Pathos scheint eine Antwort auf die Horatier darzustellen, in sehr deutscher Ausprägung. Französisch beeinflusst sind die delikate malerische Ausführung des Paris, das Inkarnat wie auch der Farbzusammenklang mit preziösen Details der Kleidung und des Interieurs. Auch bei einzelnen Frauenfiguren klingen französische Einflüsse an. Französisch ist jedoch vor allem die Themenstellung; das Bild ist Teil einer ikonographischen Reihe: Davids Lehrer Joseph-Marie Vien gestaltete die Thematik als Direktor der Académie de France in Rom und inspirierte wohl Tischbein zur Themenwahl, der sich mit David messen wollte. Das Wiederauftauchen dieses lang verschollenen Schlüsselbilds der deutschen David-Rezeption und des deutschen Klassizismus, das ursprünglich für den Herzog v. Sachsen-Gotha gemalt wurde und zuletzt 1799 in Neapel archivalisch nachweisbar war, kann als Sensation gewertet werden.

Hermann Mildenberger

Abbildung:

Hektor hält Paris seine Weichlichkeit vor, Johann Heinrich Wilhelm Tischbein, 1786
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