KRUZIFIX mit schwenkbaren Armen

Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen

Bei dem neu erworbenen Objekt handelt sich um die vollrund und an der Rückseite vernachlässigend gearbeitete Skulptur eines gekreuzigten Christus. Als Besonderheit besitzt der Korpus zwei separat geschnitzte, bewegliche Arme, die seitlich im Schultergelenk mit einer Schlitz-Zapfen-Verbindung und jeweils einem runden Holzdübel verbunden sind. Dadurch war es möglich, die in der Funktion als Kruzifixus nach oben ausgestreckten Arme herunterzuklappen und seitlich an den Körper anzulegen. Die Körperspannung, der breite, kräftige Brustkorb, die durchgedrückten athletischen Beine und die überstreckten Füße sind typische Stilmerkmale der Zeit um 1520. Ferner bestätigt auch die Gestaltung des Lendentuches, dessen scharfkantige, parallele Faltenzüge in Richtung der linken Hüfte verlaufen, wo der Stoff zu einem voluminösen Knoten verschlungen ist, die zeitliche Einordnung. Der Kopf weist sorgfältig ausgearbeitete Bart- und Haupthaare sowie feine Gesichtszüge mit hohen Wangenknochen auf. Die halb geschlossenen Liddeckel, der leicht geöffnete Mund und die hängende Unterlippe verweisen eindringlich auf den Opfertod des Heilands.

Das gegenständliche Objekt gehört zur Gruppe der »Handelnden Bildwerke« (J. Tripps), mit deren Hilfe während des Mittelalters, der frühen Neuzeit, jedoch auch noch bis ins 19. Jh.,  meist im Kirchraum und während der Liturgie die Heils- und Passionsgeschichte spielerisch verdeutlicht und verlebendigt wurde. Die Skulpturen traten dabei als Hauptdarsteller scheinbar selbst in Aktion. Durch die religiösen Umwälzungen der Reformation und die veränderte katholische Glaubenspraxis im Zuge der Aufklärung wurden die meisten derartigen Bildwerke „abgetan“ (= zerstört). Der wichtigste Vertreter dieser faszinierenden kinetischen Skulpturen ist der Kruzifixus mit schwenkbaren Armen, der wohl das Jahr über als Gekreuzigter im Kirchenraum zur Verehrung ausgehängt war, und am Karfreitag im Rahmen einer »re-enactment-Aufführung« vom Kreuz genommen, dessen Arme an den Körper angelegt, als „Leichnam“ beweint und in ein Heiliges Grab, oft in Form einer gotischen Kapelle,  gelegt werden konnte. Europaweit sind bis dato nur etwa 130 Kruzifixe dieses Typus nachzuweisen.

Museen haben nicht nur die Verpflichtung, herausragende Kunstwerke zu erwerben, sondern auch Exponate, die einen größeren kulturhistorischen und religionsgeschichtlichen Hintergrund darstellen können. Der Kruzifixus wird das Kernstück der Abteilung »Das handelnde Bildwerk« bei der neu konzipierten Präsentation der Skulpturensammlung 2021 bilden.

Michael Rief

Abbildungen:
© Suermondt-Ludwig-Museum, Aachen