Maria mit Luther-Bibel ‒ ein Relief von Peter Dell
Bayerisches Nationalmuseum München
Wenn man aus Anlass des Reformationsjubiläums ein Objekt gesucht hätte, das alle Widersprüche der Zeit in einem Werk bündelt, man hätte es kaum besser auswählen können als das Peter Dell zugeschriebene Relief. Es zeigt eine Maria mit Kind, vor der Reformation neben der Kreuzigung das häufigste Thema aller christlichen Darstellungen überhaupt. Es zeigt sie aber in einem Gewand, das man den Ikonen der Ostkirche entlehnt hatte, ein Bildgedanke, der ein Jahr vor Luthers Thesenanschlag erstmals bei Hans Leinberger im bayerischen Moosburg greifbar wird. Das Haupt ist eng durch einen Schleier, das Maphorion, verhüllt, dessen reich geschmückter Saum in langen, kunstvoll ineinander geknoteten Troddeln ausläuft. Nicht nur das Gewand, auch der Typus der Darstellung selbst reicht weit in das erste Jahrtausend und noch vor den byzantinischen Bilderstreit zurück. Maria ist als Glykophilousa, als „Süß-Küssende“, wiedergegeben, bei der Liebkosung des eng an sie geschlungenen – und, anders als im Osten: nackten – Kindes. Die Ursprünge dieses Bildtypus führte man auf den hl. Evangelisten Lukas zurück, der seiner Legende nach Maria selbst gemalt hatte. Dies erklärt unser Werk: man wollte ein authentisches Bild der Gottesmutter geben, gereinigt von allen Entstellungen späterer Jahrhunderte. Eine solch byzantinisierende Madonna stand im Mittelpunkt einer Wallfahrt, die erst zwei Jahre nach dem Thesenanschlag und dennoch mit erstaunlicher Intensität in Regensburg aufblühte, um eine hastig errichtete Kapelle, die man an Stelle der Synagoge hochzog, nachdem man nach über fünfhundert Jahren die Juden aus der Stadt vertrieben hatte. Den Abriss musste eine wundersame Marienerscheinung rechtfertigen. Der Titelholzschnitt eines 1519 für die Wallfahrer gedruckten Büchleins gibt die „Schöne Maria von Regensburg“ wieder. Er zeigt sie analog gewandet und wiederum in inniger Umarmung des Christuskindes. Wie die Immaculaten der Barockzeit steht Maria auf der Schlange des Satans. Auf dem Relief ist sie nur stärker ins Profil gewendet als auf allen bekannten Darstellungen der „Schönen Maria“, trägt dazu eine Bügelkrone wie der Kaiser, zu dem die Reichsstadt Regensburg stets ein besonderes Verhältnis pflegte. Schuf Dell damit schlicht ein Abbild mehr der „Schönen Maria“ von Regensburg, wie man früher meinte? Vieles spricht dagegen. Die Wallfahrt kam 1525 bereits wieder zum Erliegen, und Darstellungen mit eingebauten Texttafeln traten erst in den 1530er Jahren ihren Siegeszug an – wesentlich befördert durch die reformatorische Bildpropaganda im Umfeld Luthers und der Cranach-Werkstatt. Schaut man nun die Texte auf dem Relief an, so stehen sie weniger im Widerspruch zu der neuen Lehre, als man hätte erwarten können. Im Spruchband vor der Verkündigungsmaria im Bogenzwickel steht nicht, wie üblich, ihre Antwort an den Engel, sondern ein Vers aus Esaias 9, aus dem auch die oberen Engel zitieren. Die anderen Texte bemühen 1 Mos 3,15, 1 Mos 22,18 und Lk 1,76 – und zwar alle auf Deutsch und nach dem Wortlaut der Lutherbibel! Die einzigen lateinischen Worte sind dem Engel der Verkündigung beigegeben, Ave gratiosa – statt des üblichen Ave gratia plena. Gerade diese Abwandlung aber verweist ebenfalls auf den reformatorischen Bereich, wurde doch genau diese Textkorrektur 1541 in Wittenberg diskutiert: Maria sei Empfängerin, nicht selbst Gefäß der Gnade. Alle weiteren Texte beziehen sich auf die Geburt des Erlösers, einzige Ausnahme bleibt die schräg gestellte Tafel vor dem Kopf der Schlange. Sie zitiert die Warnung an Satan aus dem ersten Buch Mose: ich will Feindschaft setzen zwischen dir und dem Weibe. Dell ist Ende der 1520er Jahre in Diensten Herzogs Heinrichs des Frommen in Sachsen belegt. Er hat dort in der Folge selbst offen reformatorische Darstellungen geschaffen. Wie bei dem Marienbild übertrug er dabei in Gemälden und Druckgraphiken entwickelte Kompositionen in die kunstfertige Dimension des geschnitzten Reliefs. Daneben war er offensichtlich immer wieder auch für Auftraggeber tätig, die dem alten Glauben treu geblieben waren. Genau in diesem Spannungsfeld scheint das Münchner Relief entstanden: als das seltene Beispiel eines Madonnenbildes, das trotz der Assoziationen an die erzkatholische Wallfahrt in einem protestantischen Umfeld opportun war. Wie die meisten Arbeiten Dells ist das Relief in seinem Rahmenwerk ganz von den Formen der Renaissance bestimmt, während sich die Anlage der Figur an Hans Leinberger orientiert. Dieser hat Dell entscheidend geprägt – eine vorherige Lehre Dells bei Riemenschneider ist urkundlich belegt, aus seinen erhaltenen Arbeiten aber kaum ablesbar. Dass Riemenschneider später in die Wirren der Bauernkriege hineingezogen wurde und dass Riemenschneiders Sohn, ein bedeutender Maler, sich in Südtirol den Widertäufern anschloss, während Peter Dell und Lucas Cranach in Sachsen und darüber hinaus je nach Bedarf Katholiken wie Protestanten belieferten, rundet die Widersprüche der Künstlerschicksale jener Epoche ab. Es ist vielleicht kein Zufall, dass das Relief erstmals in Sachsen greifbar wird. Es tauchte 1939 im Leipziger Handel auf und war dann lange als Teil der Sammlung Otto Horn im Stadtmuseum Meißen ausgestellt. Nach deren Restitution Ende 2015 in Dresden versteigert, wurde es 2016 auf der Kunstmesse in Maastricht einem internationalen Publikum präsentiert. Dank des Engagements der Ernst von Siemens Kunststiftung kann das für die Kultur- wie Kunstgeschichte gleichsam bedeutende Werk künftig in einem Museum gezeigt werden, in dem die Arbeiten von Dells Lehrmeistern Riemenschneider und Leinberger in einmaliger Dichte präsent sind. Wer ein genaueres Bild von dem wechselhaften Leben und Schaffen Dells gewinnen möchte, hat dazu bis zum 7. Januar auf einer monographischen Ausstellung im Museum für Franken in Würzburg Gelegenheit.
Matthias Weniger