Melancholie (Edvard Munch)
Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin
Mittsommernacht am Aasgaardstrand. Hoch hinauf reicht das spiegelblanke Wasser in die stille Landschaft ohne Horizont. Hinter der Landzunge sinkt die Sonne ins Meer und tauch das sitzende Mädchen in wechselnde Rottöne. In einem Pinselzug hat Munch das schattige Marineblau der Strandlinie in das herabfallende Haar hineingemalt: elegische Landschaft und melancholische Haltung der Figur sind eins geworden. In den gestuften Blautönen, die bis in den imaginären „Hocker“ reichen, klingt Sehnsucht nach der Ferne herauf. Die Sinnende im roten Kleid, das Gesicht vom Haar verhüllt, bleibt anonym. Entrückt, an den rechten Bildrand gemalt, wird die Sitzende im abgewandten Körperprofil von Kantigkeit und Linienfluss gefangen. Neben ihr lagert eine ästhetische, nahezu abstrakte „Skulptur“ am Strand, schwingende Umrisse einer Liegenden mit winzigem Kopf und aufgestellten Beinen. Diese halluzinatorische Figur erscheint als das andere, schwesterliche „Ich“ des Mädchens in Rot, das sich im Schmerz des irdischen Daseins verstrickt sieht.
Als Munch 1906/07 seine „Melancholie“ mit Temperafarben auf eine grobe, ungrundierte Leinwand malte, befand er sich, durch Alkohol forciert, in einem Zustand zunehmender Depression. In der Figur der weiblichen Melancholie steckt die eigene Isolation und Traurigkeit des Malers, aber mit der Lebensfarbe „Rot“ auch sein ungebrochener Glaube an Eros und Kreativität. Über alles Persönliche hinaus erscheint dieses Gemälde als Metapher für den melancholischen Menschen im Zeitalter der Moderne.
Die „Melancholie“ ist ein zentrales Werk im Oeuvre von Munch und das Schlüsselwerk des „Lebensfries“, den der Künstler im Auftrag von Max Reinhardt für die Berliner Kammerspiele schuf. Munch hatte in dem Fries die Themen seiner Kunst – Liebe, Tod, Eifersucht, Einsamkeit, Trauer – zusammengefasst, und, wie er selbst schrieb, „ein Bild des Lebens“ gegeben. Der Zyklus bestand ursprünglich aus zwölf Bildern – 1912 demontiert – von denen die Nationalgalerie (einschließlich der Leihgabe) nun wieder zehn zeigen kann. Die „Melancholie“ schon einmal 1930 erworben, war 1937 als „entartet“ aus der Nationalgalerie entfernt worden.
Roland März
Abbildung: ©Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin
Edvard Munch (1863-1944)
Melancholie, 1906/07, aus dem Reinhardt-Fries
Tempera / Leinwand, 87 x 156cm
Neue Nationalgalerie, Staatliche Museen zu Berlin