Repräsentative Neuerwerbung für das Dresdner Albertinum: Ernst Barlachs "Schwangeres Mädchen" (1924)
Albertinum, Staatliche Kunstsammlungen Dresden
Von den 99 Holzskulpturen, die Ernst Barlach nachweislich geschaffen hat, sind 85 erhalten, die heute mehrheitlich in öffentlichen Sammlungen verwahrt werden. Allein das Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma in Hamburg besitzt 30 dieser einzigartigen Werke. Angesichts der überschaubaren Anzahl von Holzskulpturen in Privatbesitz, die überhaupt noch zum Verkauf kommen können, war das Angebot einer solchen Figur auf dem Kunstmarkt von höchstem Seltenheitswert und die Erwerbung für das Albertinum ein absoluter Glücksfall.
Ernst Barlach, einer der bedeutendsten deutschen Künstler des 20. Jahrhunderts, verstand sich selbst hauptsächlich als Holzbildhauer. Die Holzskulpturen, die er zwischen 1907 und 1937 schuf, machen den Kern seines vielschichtigen Œuvres aus. Daneben war der vielfach Talentierte, der in den frühen 1890er Jahren an der Dresdner Kunstakademie studiert hatte, auch ein begnadeter Zeichner, ein innovativer Grafiker und wortgewaltiger Schriftsteller. In seiner lebenslangen Beschäftigung mit der menschlichen Figur übte Barlach zum einen Kritik an seiner Zeit – gerade nach den verheerenden Erlebnissen und Folgen des Ersten Weltkrieges – aber zugleich schuf er auch Gestalten von zeitloser Gültigkeit. In der reduzierten äußeren Erscheinung seiner Figuren, die oft Zweifelnde, Eiferer, Notleidende oder Versehrte, aber auch Suchende und Sinnende sind, werden elementare menschliche Wesenheiten erfasst und zum Ausdruck gebracht.
„Schwangeres Mädchen“ von 1924 ist ein repräsentatives Beispiel für Barlachs Schnitzkunst und charakteristisch für seine Gewandfiguren. In der für sein reifes Werk typischen Statuarik greift der Künstler ein Motiv auf, das er bereits 1922 in einer Zeichnung entwickelt hatte. Er schildert die Schwangerschaft nicht allein als glücklich-freudvollen Zustand, sondern zeigt das Mädchen vielmehr in sich gekehrt, in sich ruhend und nachsinnend über das, was kommen wird. Bereits 1920 hatte die Dresdner Skulpturensammlung die aus Mooreiche geschnitzte Skulptur „Frierendes Mädchen“ (1917) von Barlach erworben, welche nur 17 Jahre später von den Nationalsozialisten als „entartet“ beschlagnahmt wurde (heute im Ernst Barlach Haus – Stiftung Hermann F. Reemtsma, Hamburg). Diese empfindliche Lücke im Bestand konnte über Jahrzehnte hinweg nicht mehr geschlossen werden. 2020 würdigte das Albertinum Barlach zu dessen 150. Geburtstag mit einer großen Jubiläumsausstellung. 2021, rund hundert Jahre nach der ersten Barlach-Erwerbung erhält das Albertinum nun mit dem „Schwangeren Mädchen“ eine der markantesten Holzskulpturen Barlachs, die den Sammlungsbestand moderner figürlicher Skulptur – von Rodin über Maillol und Lehmbruck bis Marcks und Kirchner – kongenial ergänzt und fortan der Öffentlichkeit zugänglich sein wird.
Astrid Nielsen
Abbildungen:
Verschiedene Ansichten von Ernst Barlach, Schwangeres Mädchen, 1924, Holz, 86,4 cm x 25 cm x 16,5 cm, Staatliche Kunstsammlungen Dresden, © Hans-Peter Klut, Foto: Elke Estel, Dresden.