Salvador Dalí, Die Venus von Milo mit Schubladen
Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf
Viele surrealistische Künstler schufen in den frühen dreißiger Jahren Objekte. A. Breton, der geistige Kopf der Gruppe, hatte schon 1924 die Herstellung von Objekten, die man nur im Traum erkennt, gefordert. Dali begriff das Wesen des surrealistischen Objekts in seinem symbolischen Funktionieren und charakterisierte 1936 diese Gegenstände als unbrauchbare und ausschließlich ehrenhalber gemachte, die dazu dienen, den Menschen in Bewegung zu setzen, ihn zu schwächen und zu verdummen. Im selben Jahr entstand seine „Venus von Milo mit Schubladen". Dali bezeichnete sich selbst gern als Anti-Modernisten und griff immer wieder auf Motive zurück. Die sogenannte Venus von Milo (heute: Louvre) gewann im ausgehenden 19. Jahrhundert in Repliken eine ungeheure Popularität, die bis heute fortlebt.
In die 1936 reproduzierte, verkleinerte Gipsfigur platzierte Dali Öffnungen in die Stirn, die Brüste, den Bauchbereich und das linke Knie, die er durch Schubladen mit Pelzquasten wieder schloß. Bezeichnete S. Freud die Schublade als Symbol der verborgenen Sexualität der Frau, so sah sie Dali darüber hinaus als Bild kindlicher Neugier, die sich im Durchsuchen unbekannter Räume manifestiert, auf der Suche nach dem Unbekannten und getrieben von der Furcht gerade vor diesem. Die eingeschobenen Laden reißen das in der unbewußten Erinnerung verankerte Bild der Göttin der Schönheit und der geschlechtlichen Liebe aus dem vertrauten Sinnzusammenhang. Die „Venus von Milo mit Schubladen" ist nicht das Ergebnis surrealistischer Traumarbeit. Sie ist das Ergebnis Dalís kritischparanoischer Methode, Sehnsüchte und Begierden der Menschen in skandalöser Weise in die Welt zu schleudern. „Man sollte alle Schubladen in einen geräumigen Körper tun, der die christliche Erfindung der Gewissensbisse noch nicht gekannt hat. Diese Skulptur könnte uns von der Psychoanalyse heilen" (Dalí, zit. in: v. Maur).
1964 beauftragte Dali Max Clarac-Serou, Direktor der Galerie du Dragon in Paris, einen Bronzeguß der „Venus von Milo mit Schubladen" herzustellen. Es entstanden sechs nummerierte Exemplare und vier Abgüsse für den Künstler, wobei die heutigen Standorte nicht alle ermittelt werden konnten. In den siebziger und achtziger Jahren griff Dalí das Motiv des anthropomorphen Wesens mit Schubladen wiederholt auf, ohne aber die frühere Prägnanz und irritierende Kraft zu erreichen.
Maria Müller
Salvador Dalí, Vénus de Milo aux tiroirs: 1936 / 1964. Bronzeguß mit gipsartiger Fassung und Pelzquasten 98,5 x 32,5 x 34 cm
Fotonachweis: © Demart pro Arte B. V. / VG Bild-Kunst, Bonn, Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf Foto: Walter Klein, Düsseldorf