Sitzfigur einer Prinzessin
Staatliche Sammlung Ägyptischer Kunst, München
Die Vielfalt menschlicher Körperhaltungen wird in der ägyptischen Kunst auf wenige Grundtypen reduziert, die ihre Erklärung der funktionalen Einbettung in den Totenkult verdanken. In der Stand-Schreit-Figur erhält der Verstorbene die Möglichkeit einer jederzeit abrufbaren Bewegungsfähigkeit zurück, die ihm durch Tod und Balsamierung genommen worden war; er verfügt dank seiner Statue wieder über diesseitige Funktionen. In der Sitzfigur hingegen, die nur scheinbar ein Abbild des Lebens ist, wird er der Zufälligkeit des irdischen Daseins entzogen: nur Götter und Könige thronen, der sterbliche Mensch hockt am Boden. Mit der Hieroglyphe des Hockenden wird das Wort „Mensch“ determiniert. Auf ikonographischer Ebene entspricht diesem formalen Typus die Wiedergabe einer Festtagskleidung.
Die Identität der in der Sitzfigur dargestellten Frau ergibt sich aus dem Fundkontext ihrer Statue: Sie wurde im Jahr 1902 im Westfriedhof von Giza in einem Mastaba-Grab gefunden, das durch ein berühmtes Relief (heute: Louvre) mit einer Opfertischszene der „Königstochter Nefret-Jabet“ zugewiesen ist. Wahrscheinlich ist diese Prinzessin eine Tochter des Cheops, des Erbauers der Großen Pyramide von Giza.
Die Proportionen der gedrungenen, kräftigen Körperformen sowie das rundliche, füllige Gesicht finden ihre Entsprechung in zeitgleichen Werken der ältesten Pyramidenzeit. Trotz der Strenge des Ausdrucks erhält das Gesicht Lebendigkeit durch den aufwärts gerichteten Blick, und die asymmetrische Bildung des Mundes verleiht ihm Individualität. Die Persönlichkeit einer energischen, ihrer gesellschaftlichen Position bewussten Frau ist in dieser Statue wiedergegeben. Nefret-Jabets Sitzfigur ist eines der Meisterwerke der ersten Blütezeit der ägyptischen Kunst, in der nicht nur mit den Pyramiden von Giza Maßstäbe für die Architektur Ägyptens gesetzt werden, sondern auch die Skulptur ihr fortan klassisches formales Repertoire entwickelt.
Sylvia Schoske
Abbildung: