Statuette eines Apostels
Skulpturensammlung und Museum für Byzantinische Kunst, Berlin
Die Apostelstatuette wurde in Alabaster gearbeitet, der sich als Werkstoff - in seiner Oberfläche lichtdurchlässig - besonders im späten Mittelalter bei der Fertigung von Kleinbildwerken größter Beliebtheit erfreute. Der Rest des Attributs in der Linken ist als der Griff eines Messers zu deuten, nach dem sich die Figur als Bartholomäus bestimmen ließe. Zusammen mit anderen Aposteln dürfte die Statuette den Schrein eines Altaraufsatzes geschmückt haben. Ergänzt wurde die Folge vielleicht durch Johannes den Täufer; ein entsprechendes Figürchen, neben Bartholomäus wohl einzig überlieferter Überrest des in Frage kommenden Zyklus, hat sich in den Cloisters in New York erhalten.
Trotz ihres kleinen Formats wirkt die Figur in ihrer Erscheinung monumental. In der Statur, der Festigkeit des Stehens und der Faltengebung folgt sie Beispielen zeitlich vorausgegangener Skulptur an Kathedralportalen. Zugleich zeigt sie eine Sublimierung, wie sie nur den erlesensten Werken der Kleinkunst, Goldschmiede- und Elfenbeinarbeiten zu eigen ist. Der Eindruck von Kostbarkeit ist bedingt durch die Schichtung dünner Stoffhüllen übereinander und die Feinheit des Faltenreliefs, bei dem eine ungewöhnlich reiche Abstufung erzielt wird. Der wellige Verlauf der Borten, in variiertem ornamentalem Spiel dargeboten, war früher zusätzlich durch einen Goldsaum betont. Mit der räumlich wirksamen, auf Gegenwärtigkeit hinzielenden statuarischen Erscheinung steht die Individualisierung des Gesichts im Einklang. Sie beruht auf der stofflichen Belebung einer im Grunde stark typisierten Form. Eindrucksvoll ist der sinnende, vergeistigte Ausdruck und die in ihrer Stofflichkeit charakterisierte, streng stilisierte „Haarperücke“. Die bislang unbekannte Apostelfigur ist ein Werk der „Internationalen Gotik“ von besonderer Qualität. Sie stammt von einem auf Skulpturen in Alabaster spezialisierten Künstler, dem „Rimini-Meister“, der seinerzeit in ganz Europa den besten Ruf genoss und höchstwahrscheinlich im Ursprungsgebiet der altniederländischen Kunst beheimatet war. Seinen Notnamen verdankt dieser Bildhauer, der mit den Erneuerern seiner Epoche in engstem Kontakt gestanden haben muss, einem aus der Kirche Santa Maria delle Grazie bei Rimini stammenden Altarwerk (heute: Liebighaus, Frankfurt).
Hartmut Krohm
Abbildung: