Tilman Riemenschneider, Zwei Figurengruppen einer Kreuzigung Christi, um 1485/90

Bayerische Nationalmuseum, München

Die beiden Figurengruppen rahmten ursprünglich im Mittelschrein eines Flügelaltars einen zentralen Kruzifixus mit der knienden heiligen Magdalena. Wie Aussparungen auf der Rückseite der Holzblöcke erkennen lassen, erhoben sich hinter den Gruppen die Kreuze der Schächer. Auf der Innenseite der ehemals zugehörigen Flügel befanden sich Flachreliefs mit der Darstellung Christi am Ölberg und der Auferstehung. Die genaue Herkunft des Passionsaltares ist nicht überliefert. Wahrscheinlich handelt es sich um den ehemaligen Hochaltar der Franziskanerkirche in Rothenburg ob der Tauber.

Das feiste Gesicht des Hohepriester Kaiphas und das junge klagende Antlitz des Evangelisten Johannes zeigen die für Riemenschneiders Gesamtwerk charakteristische Fähigkeit, virtuos zarte psychologische Empfindungen wiederzugeben. Darüber hinaus ist bei beiden Gruppen eine sonst nicht auftretende Differenzierung im Ausdruck der Köpfe sowie in der Dramatik gegensätzlicher Haltung und Bewegungen zu beobachten. Während Riemenschneider nach 1500 über einen Fundus zwar verfeinerter, sentimentgeladener, aber stereotyp wiederholter Gesichter, Gesten und gefühlvoller Körperbiegungen verfügte und seine Figuren und Kompositionen aus solchen vorgeprägten Motiven zusammenzusetzen pflegte, wirken die Köpfe hier nuancierter und unmittelbarer. Riemenschneider war damals offenbar noch stärker von den Erfahrungen der zeitlich vorausgehenden oberrheinischen Kunst wie eines Niclaus Gerhaerts geprägt. Bei dem großen Passionsaltar muss es sich um eines der frühesten Werke des Meisters nach der Gründung seiner Würzburger Werkstatt handeln, der noch vor dem „Münnerstädter Altar“ von 1490/92 entstanden sein muss.

Beide Figurengruppen gewinnen über ihre skulpturalen Qualitäten hinaus Bedeutung durch die reiche und außergewöhnlich gut erhaltene farbige Fassung, die wahrscheinlich der Rothenburger Dominikaner und Maler Martinus Schwarz schuf.

Rainer Kahsnitz

Abbildung:

Abb. 1: Tilman Riemenschneider (um 1460 - 1531), Maria und Johannes mit zwei trauernden Frauen, Würzburg, um 1485/90
Abb. 2: Tilman Riemenschneider (um 1460 - 1531), Hohepriester Kaiphas mit fünf Kriegsknechten, Würzburg, um 1485/90
©Bayerisches Nationalmuseum, München