Vesperbild (Pietà), 15. Jahrhundert
Diözesanmuseum Paderborn
Der breit gelagerten, vollrund gearbeiteten Skulpturengruppe eignet eine geradezu bezwingende Intensität des Ausdrucks. Diagonal über den Schoß der Mutter ist der von Wundmalen entstellte Leib des Sohnes gebreitet, dessen dornengekröntes Haupt allein den geschlossenen Gesamtkontur durchstößt. Die Augen sind im Tod gebrochen. Die bläulich verfärbte Haut zeigt teils plastisch aufmodellierte Blutrinnsale, die senkrecht über den Leib ausgezogen sind. Sie deuten zusammen mit den besonders betonten Wundmalen an Händen und Füssen und der Seitenwunde auf den vorausgegangenen Kreuzestod. Damit ist in diesem Bildwerk die Passionsgeschichte insgesamt aufgerufen und vergegenwärtigt. Die plastische Prägnanz der kräftigen, teilweise derb realistischen Formen des Körperbaus korrespondiert mit der statuarisch beruhigten Haltung der Gottesmutter. Die innere Monumentalität und Größe der statuarisch aufgefassten Gruppe erfährt in der bewegt gezeichneten Draperie des Faltenwerks einen spannungsvollen Kontrast. In die gespannt ausgezogenen Stege, die Brüche und Höhlungen des Faltenwerks scheint die ganze Dramatik des vorausgegangenen Geschehens eingezeichnet. Davon wie abgelöst erscheint das großflächige Antlitz Mariens, dessen Ausdruck weder Schmerzesregung noch Klage zeigt. Eine Mischung aus stiller Trauer aber auch Zuversicht beseelt dieses Antlitz, worin letztlich jene tiefe Glaubensgewißheit aufscheint, die mit dem Tod am Kreuz das Erlösungswerk vollendet weiß.
Der hier vergegenwärtigte Typus der Gottesmutter, die den nach vorn gedrehten Leib Jesu dem gläubigen Betrachter zur compassio vorweist, geht auf Erfindungen der niederländischen Tafelmalerei im Umkreis des Rogier van der Weyden zurück. Dieser Typus zählt zu den verbreiteten Ausprägungen der Bildgattung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts. Stilkritisch lässt sich die hochbedeutende Skulptur mit einer Reihe anderer Vesperbilder und Kruzifixe einem anonymen, im südlichen Westfalen tätigen Meister zuweisen. Sie gruppieren sich um sein Hauptwerk, die Pietà in der kath. Pfarrkirche St. Hubertus zu Dorlar aus der Zeit um 1480. Das hat zuerst Hans Westhoff richtig erkannt, der die Figur allerdings zeitlich zu früh ansetzte. Weitere Skulpturen finden sich in den Kirchen von Cobbenrode, Garbeck, Oberhundem und Berghausen. Von diesen hat einzig die Pietà in Dorlar ihre originale Fassung bewahrt. Mit der hier vorgestellten Pietà haben wir nun ein weiteres Bildwerk dieses Meisters, das noch seine außerordentlich gut erhaltene Originalfassung besitzt. Der Zeitstellung nach dürfte es ebenfalls im letzten Drittel des 15. Jahrhunderts entstanden sein.
Chr. Stiegemann
Abbildung: