Wilhelm Lehmbruck, Kopf eines Denkers
Kunstsammlungen Chemnitz
„das außergewöhnliche Werk Wilhelm Lehmbrucks rührt eine Schwellensituation des plastischen Begriffs an." (zit. Joseph Beuys, 1986)
Der „Kopf eines Denkers" entstand 1918. Im März 1919 schied Wilhelm Lehmbruck freiwillig aus dem Leben, zerbrochen an den Diskrepanzen und Spannungen seines Daseins. Dieser Steinguß ist eine der letzten Arbeiten des Künstlers, zugleich auch ein verborgenes Selbstbildnis. Er ist der Endpunkt des nur innerhalb eines Jahrzehntes entstandenen Lebenswerkes von Lehmbruck.
1910 war Lehmbruck nach Paris gegangen und hatte dort seinen persönlichen Stil gefunden, der sich in der großen „Knienden" von 1911 manifestierte. Nach Ausbruch des Krieges 1914 mußte er nach Deutschland zurück-kehren. Er lebte mit seiner Familie in Berlin, seit Ende 1916 aber vorwiegend in Zürich. Desillusioniert und tief resigniert - 1917 wurden ihm Depressionen bescheinigt - arbeitete Lehmbruck in seinem Züricher Atelier. Ohnmächtig fühlte er sich de Konflikt zwischen dem Sterben nach Dominanz des Geistigen und dem Schrecken des Krieges ausgeliefert.
Mit der Gestaltfindung für den „Kopf eines Denkers" ging Wilhelm Lehmbruck weit über traditionelle Bildauffassungen hinaus. Das plastische Volumen stark verringert, ist Körperlichkeit nurmehr fragmentarisch vorhanden. Rudimentäre Armstümpfe reduzieren den fragilen Oberkörper zusätzlich. Isoliert davor ist die linke Hand zusammengekrampft. Auf dem überlangen Hals sitzt der schmale Kopf, dessen alles bestimmender Ausdruck die hohe Wölbung des Stirnschädels ist. Dieser Kopf ist per se die Konzentration des Geistigen. Lehmbruck hat dem Denken an sich Gestalt gegeben. Zugleich ist die Skulptur auch Zeugnis für das Scheitern seines eigenen schmerzhaften Ringens, seiner letztendlich erfolglosen Suche nach geistiger Bewältigung des Desasters seiner Epoche. Salzmann erkannte „die schonungslose Entblößung des Ego", deren Verletzlichkeit durch die sanft getönte Oberfläche des Materials Steinguß betont wird und den Betrachter zusätzlich sensibilisiert. 1923 erwarb die Städtische Kunstsammlung Chemnitz den „Kopf eines Denkers" von der Witwe des Künstlers. Als „entartet" wurde der Steinguß 1937 beschlagnahmt.
Beate Ritter
Abbildung: Wilhelm Lehmbruck (1881-1919): Kopf eines Denkers; 1918 Steinguß; H. 63 cm, B. 58 cm, T. 34 cm unsigniert , © Staatliche Kunstsammlungen Chemnitz